Kämpfen mit Taiji Quan: Ein Erfahrungsbericht
Als ich 2009 im Zhen Wu e.V., damals noch Bailung, intensiv mit Taiji quan begann, war meine Motivation zuerst eine gesundheitliche. Ich hatte einen körperlichen Einbruch hinter mir und musste meinen Lebensstil ändern. Es war zuviel im Leben, ich war zusehr unter Druck – wobei viel davon selbst gemacht war. Der `Kampf – Aspekt´ spielte im Taiji-quan Training für mich zunächst keine Rolle, denn es ging mir vorwiegend um Entspannng. `Kampf´ assoziierte ich damals mit Spannung, Druck, Aktion – und davon hatte ich in dieser Zeit genug.
Ich wollte weg davon, mein Leben harmonisieren, ausgleichen, zu mir kommen, Ruhe und Gelassenheit finden, und suchte etwas, das auch im Alltag praktizierbar ist. Schon vor dieser Zeit hatte ich angefangen, mit autodidaktisch die 88er- Langform anzueignen (Teile davon hatte ich bereits Ende der 90er Jahre von Jochen bei uns in der Klinik lernen können). Und dazu nutzte ich die Mittagspause. Ich empfand es als wohltuend, mich eine halbe Stunde nur mit meinem Körper zu beschäftigen. Anschließend fühlten sich Muskeln und Gelenke geschmeidiger an und auch mein Geist war zur Ruhe gekommen, da er sich in dieser Zeit ausschließlich mit dem Körper beschäftigt hatte.
Im Training bei Bailung wurde ich dann nach und nach auch mit dem `Kampf-Element´ des Taiji-quan vertraut, insbesondere durch die praktische Demonstration der Anwendungen. Ich verstand allmählich die dahinter liegende Philosophie des yin-yang-Konzepts (Auf Härte mit Weichheit reagieren, die Kraft neutralisieren, umlenken, den Gegner mit Entspannung zu überwinden usw.).
Aber: Wann würde ich dies im Leben, im Alltag anwenden können. Weder leben wir im Mittelalter, wo man auf jeder kurzen Reise von Räubern überfallen werden könnte, noch an einem Ort, wo marodierende Jugend-Gangs die Gegend unsicher machen. Und mich auf Wettkämpfen mit anderen zu `prügeln´ – nein danke, nicht mehr mit fast 50 Jahren. Und dann geriet ich aus dem Nichts heraus in eine Kampfsituation, wo ich aus der Taiji quan Perspektive alles falsch gemacht habe, was man falsch machen kann.
Folgendes ist damals passiert:
Meine Frau Heidi und ich waren mit dem Zug auf dem Weg nach Dresden und mussten in Hannover umsteigen. Wir hatten uns in der Unterführung mit Snacks versorgt und steuerten durch die Menschenmenge in Richtung Treppe zum Bahnsteig, wo der Zug nach Dresden abfahren sollte. Ich muss noch kurz erwähnen, dass ich mich in dieser Zeit viel mit dem Konzept der Vorstellungskraft, Yi, beschäftigt habe.
Beeindruckt war ich von einer Erzählung von Jochen, in der er von einem Gang mit seinem ehemaligen Lehrer Mike Martello über die Maiwoche in Osnabrück berichtete. Die Menschenmenge hätte sich durch die Aura von Mike quasi vor ihnen geteilt. Ich selbst hatte dies auch schon ausprobiert: Du nimmst `Aufrichtung´ und `Yi´- die Vorstellung, einfach durch die Leute hindurchzugehen. Und tatsächtlich, die Leute scheinen zu merken, dass da einer ist, der nicht aus dem Weg geht, und weichen unwillkürlich aus.
Nun aber zurück zum Hauptbahnhof Hannover: Als wir auf dem Weg in Richtung Bahnsteigtreppe waren, bemerkte ich, dass von schräg links eine Person kam, die meinen Weg zu kreuzen schien. Reflexhaft schaltete ich auf die Intention `Ich gehen meinen Weg, lass mich nicht davon abbringen´ um. Da der andere scheinbar auch diese Strategie verfolgte, geschah das Unvermeidliche: Wir rempelten uns an. Ich hörte ihn sodann hinter mir einen Fluch ausstoßen („Pass doch auf, Du Blödmann“).
Spontan schaltete ich auf `Nicht reagieren, gar nicht beachten´ um (auf der Autobahn bei nervigen Audifahrern mit Lichthupe oft erfolgreich umgesetzt). Hier hatte ich aber keine schützende Blechhülle um mich herum und zu allem Überflüss hatte ich ihm auch noch meinen Rücken zugewandt. Im nächsten Moment spürte ich einen heftigen Schlag gegen meinen Schuh. Er hatte mich tatsächlich getreten. Überrascht drehte ich mich jetzt um, verärgert, empört, bereit, ihm ein „Was soll das, Du Arschloch“ entgegen zuschleudern.
Da stellte sich jedoch Heidi zwischen uns und sagte ruhig, aber entschieden zu ihm: „Jetzt ist es gut“. Jetzt wirkte er überrascht, sagte nur noch etwas in der Art von „Deine Mutter ist eine Hure“ und machte sich von dannen.
Welche grundlegenden Taiji-quan Prinzipien habe ich hier nicht beachtet
1. Achtsamkeit, im Hier und Jetzt sein, Sensitivität
Taiji-quan lehrt uns Achtsamkeit, im Hier und Jetzt sein. Das Ausführen der Solo-Form verlangt ein hohes Maß an Konzentration auf den Körper. Grundlage ist dabei, dass das Shen, die geistige Energie, das Bewusstsein, vollkommen auf die körperliche Aktivität gerichtet ist. Ich bin also `voll bei der Sache´. Wenn ich die Form äußerlich korrekt laufe, innerlich aber unbeteiligt, ohne `Intention´ bin, kann sich die vitale Lebensenergie, das Qi, nicht optimal entfalten (vgl. Olvedi, 2011).
Bei den Partnerübungen ist dies noch offensichtlicher: Das Erspüren der Aktionen und Intentionen des Gegenüber ist hier grundlegend. Übertragen auf den Alltag kann das bedeuten, eine vertiefete Sensibilität für Stimmungen und zwischenmenschliche Spannungen zu entwickeln. Kürzlich sprach ich mit einer Kollegin, die Gewaltopfer betreut. Sie berichtete mir, dass jene Frauen eher Opfer von Sexualstraftaten werden, die die Gefahr einer Situation oder Person einfach unterschätzen.
Auch ich hatte in der besagten Situation die Gefahr einfach unterschätzt: Jemand, der sich so bewegt, zielstrebig, unter Druck, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer psychischen Ausnahmesituation. Sich mit so einer Person auf eine Auseinandersetzung einlassen, kann lebensgefährlich sein (siehe der Geschäftsmann, der an einem S-Bahnhof bei München von einem Jugendlichen tot geprügelt wurde).
Schließlich: Ich wollte meine Intention ausführen, der andere sollte für mich nicht existent sein – wie wir es in Partnerübungen häufig üben: Wenn Du einen Angriff ausführst, geht die Kraft durch den Gegner hindurch, so kann er keinen Widerstand entwickeln und wird dadurch `entwaffnet´. Das setzt aber voraus, dass man sich bereits im Kampf befindet.
Also befand ich mich bereits mental in einer Kampfsituation, nur war es mir nicht bewusst. Wäre es mir bewusst gewesen, hätte ich gespürt, dass der andere in einer außergewöhnlichen psychischen Situation ist und nicht zurückweichen wird. In so einem Fall ist es besser, zurückzuweichen, um Abstand und Kontrolle zu gewínnen.
2. Die inneren Harmonien
Aus dem Liu He kennen wir neben den drei äußeren auch die drei inneren Harmonien: Erst kommt shen, dann yi, dann Qi. Zunächst das Bewusstsein, die Wachheit, Aufmerksamkeit, geistige Energie, dann die Intention, die Absicht, Vorstellungskraft, welche widerum Qi nährt und stärkt. Zusammen mit den äußeren Harmonien erzeugen sie körperliche Kraft (Li) (Wolfgramm, mündliche Mitteilung; vgl. auch Olvedi, 1998).
In der beschriebenen Situation habe ich diesem für QiGong und Gongfu grundlegenden Prinzip entgegen gehandelt, indem ich die erste innere Ebene, das shen, vernachlässigt bzw. nicht realisiert habe. Ich war gleich auf der Ebene des Yi, wollte mit Vorstellungskraft etwas in Bewegung bringen, ohne auf den Kontext der Situation zu achten.
Wenn Du so kämpfst, dann verlierst du.
3. Aufrichtung (Alignment), respektvolle Grundhaltung
Habe ich ja praktiziert, ich war aufgerichtet, ich hatte mein Ziel, meine Intention, ich war locker, entspannt, nicht auf Krawall aus. Aber der Fehler dabei war: Ich war nur bei mir. Ich hatte keine Sensibilität für den Kontext, die andere Person. Es war ein `hohles´ Alignment, ohne shen, ohne achtsames Gewahrsein für die aktuelle Situation Heidi hat – obwohl sie nie Taiji quan praktiziert hat- instinktiv das Richtige getan: Sie hat sich vor ihm `aufgebaut´, ihm ihn die Augen geschaut, ihm damit `Augenhöhe´ signalisiert (Bemerkenswert ist, dass sie mit 1,63m Körpergröße eher klein ist.
Die reale Größe ist demnach nicht entscheidend, sondern wieder das shen, das Bewusstsein, die geistige Energie, die dabei zum Ausdruck kommt. „Jetzt ist es gut“ macht darüber hinaus Kontrolle deutlich. Es wurde klar, deutlich, aber nicht vorwurfsvoll, sondern respektvoll intoniert. Der andere konnte sein Gesicht wahren.
Ein anderes Beispiel schilderte mir eine Teilnehmerin eines push-hands ´Treffens: Sie war Ärztin und oft auf Notarzteinsätzen unterwegs. Bei schwierigen Patienten, z.B. alkoholisiert und aggressiv, würde sie von ihren Kollegen, kräftigen Rettungssanitätern, häufig vorgelassen (Mach Du mal, du kannst das besser). Wir sprachen darüber, was es ihr wohl erleichtern würde, einen Zugang zu solch schwierigen Personen bekommen. Sie sagte, dass es vermutlich die Taiji-Grundhaltung sei: Aufgerichtete Körperhaltung, klarer, offener Blick, respektvolle Grundhaltung. Mittlerweile habe ich selbst diese Erfahrung auch schon gemacht (Gott sei Dank bin ich lernfähig).
Wenn ich aggressiven Personen aufgerichtet und respektvoll begegne, sind sie leichter zu händeln, die Situation entspannt sich, ich habe Kontrolle. Der Kampf ist gewonnen, bevor er angefangen hat.
4. Nachgeben
Das Nachgeben ist die große Stärke des Taiji quan, das Siegen durch Loslassen. Der Angriff wird umgeleitet, neutralisiert, die Kraft aufgenommen und zurückgegeben. Und das beginnt bereits im Kopf. Im vorliegenden Beispiel war ich von Anfang an auf `Härte, Unnachgiebigkeit´ aus.
Ich wollte meinen Weg gehen, der andere muss halt ausweichen, ein eigenes Ausweichen hatte ich nicht im Sinn. Klüger wäre es gewesen, den Schritt zu verlangsamen und ihn vorbeizulassen. Aber auch nach dem Rempler hätte ich noch nachgeben können, indem ich dem Angriff ausweiche, mich anschließend für meine Unachtsamkeit entschuldige, das aber nicht devot, unterwürfig, sondern in aufgerichteter Haltung, eventuell mit einer gehobenen, Beschwichtigung signalisierender Hand.
Wenn auch das nicht geholfen hätte und er mich angreift, kann ich nur darauf vertrauen, instinktiv ein geeignetes Taiji-quan Pattern abrufen zu können. Dabei kann ich aber nur hoffen, dass er keine Waffe, z.B. ein Messer, dabei hat. In so einem Fall bin ich quasi wehrlos.
Also: Bei derart unberechenbaren Menschen ist Nachgeben und Deeskalieren die oberste Devise. Ich habe relativ am Anfang meiner Zeit bei Bailung e.V. Jochen mal gefragt, ob er jemals auf der Strasse mal Gongfu anwenden musste. Dies verneinte er zu meiner Überraschung. Ich fragte weiter nach dem Grund. Seine Antwort: „Wenn ich spüre, da ist Gewalt im Anflug, z.B. eine gereizte Stimmung, dann verlasse ich die Situation.“
Das Taiji quan lehrt uns: Im rechten Moment nachgeben, d.h. bevor ich in eine Auseinandersetzung gerate.
5. Gelassenheit
Du hast schon verloren, wenn Du krampfhaft besser sein willst als ein anderer. Wie beim push-hands: Du merkst schon am Anfang, wenn jemand im Kampf-Modus ist, unter hoher Anspannung. Und auch das beginnt im Kopf: Besser sein wollen, sich durchsetzen wollen, ein eigenes Ziel ohne Rücksicht verfolgen. Ich wollte partout nicht von meinem Weg abweichen, wollte unbedingt meinen Willen durchsetzen.
Hast du einen solchen Gegner, ist er eine leichte Beute für dich. Im Sport z.B. kannst Du ihn durch Provokationen anstacheln, dass er seine Kontrolle verliert (siehe Zidane im WM Finale von 2006, provoziert durch einen italienischen Abwehrspieler versetzt er diesem eine Kopfnuss und wird vom Platz gestellt. Italien wird danach Weltmeister, da Frankreich seinen Führungsspieler verliert). Also: Lass los, entspann dich, gehe deinen Weg klar, aufrichtig und bewusst.
Fazit:
Im Alltag können wir jederzeit unbedacht in gewaltsame Auseinandersetzungen geraten. Im Vorfeld entscheidet sich, ob es zu einem körperlichen Kampf kommt oder nicht. Die Taiji quan Grundprinzipien Sensibilität, Aufrichtung, Rooting, Achtsamkeit, Nachgeben und Gelassenheit in Verbindung mit den 6 Harmonien (Liu He) sind wichtige Strategien zur Deeskalation.
Wir brauchen nicht kämpfen, um zu siegen. „Die Techniken dieses Faustkampfes betonen nicht den Angriff, sondern legen in erster Linie Wert auf die Verteidigung. Man lernt, sich seiner Aktionen voll bewußt zu werden, und die dem Taiji quan immanente daoistische Philosophie leitet dazu an, unnötige Konfrontationen zu vermeiden“ (Song, 1998).
Mein Verhalten in der geschilderten Situation war vollkommen konträr zu diesem Prinzip. Aber – wie schon so oft gehört- man lernt halt nur aus Fehlern und deswegen bin ich dankbar für diese Erfahrung.
Literatur:
Olvedi U. (2011): Das stille QiGong. Knaur.
Song, Z.J. (1998): T´ai Chi Ch´üan-die Grundlagen. Piper.
Ich habe heute den Artikel erst gelesen und freue mich, wie meine spontane Reaktion mit dem ‚Rüpel‘ dich zum Nachdenken angeregt hat.
Wir sollten nur aufmerksam im Leben bleiben, sonst können wir schwierige Situationen im leicht übersehen oder im Vorfeld auch verharmlosen. Ist das wohl Thaiji Quan?
Ein wirklich lesenwerter und interessanter Artikel. Das spannende daran ist, dass ich viele dieser Taiji Grundprinzipien damals durch meinen klassischen Gesangslehrer bereits vermittelt bekommen habe, da auch im Gesang ähnliche Grundprinzipien herrschen. Eine entspannte, aufrechte Haltung, singen ohne Druck, sondern mit einer klaren Vorstellung/Intention, aus der Körperstruktur heraus. So wenig Spannung wie möglich, nur so viel wie nötig. Schultern locker. Achtsamkeit in Bezug auf das, was ich tue, ohne aber zu verkrampfen. Tiefe Zwerchfellatmung, Atmung in den Rücken, den Klang gehen lassen, fließender Gesang. Usw.
Toll, wenn sich aus unterschiedlichen Bereichen Synergieeffekte einstellen.
Danke für Deinen Erfahrungsbericht!!
Ha, einer zitiert noch mein uraltes Erstlingswerk als Übersetzung von Meister Song’s riesen Schmöker, wie schön!
Beste Grüße aus TW!