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Marvin Leck: Kung Fu im Wandel

Kung Fu – eine Tradition vom Aussterben bedroht?

Vor ein paar Jahren hatte ich die Möglichkeit im Rahmen meines Studiums ein Auslandssemester in Beijing, China machen zu können. Neben der Chance auf eine Verbesserung meiner Sprachkenntnisse hatte ich auch das Glück am Tongbei Unterricht von Zhang Xinbin Laoshi teilnehmen zu dürfen.

Als ich eines Abends auf dem Weg zum Training über den Campus der Uni schlenderte, hatte ich meinen Langstock dabei, da ich gerade mit einer neuen Waffenform begonnen hatte. Dabei begegneten mir ein paar chinesische Studenten, die sich offensichtlich gerade auf dem Weg zum Basketball Training befanden. Während ich meinen Langstock eng am Körper hinter der Schulter trug, so wie zum Beginn vieler Formen, spielten sich die Jugendlichen fröhlich ihren Basketball zu. Unsere Wege kreuzten sich nun, und man grüßte sich mit einem freundlichen Lächeln. Dabei fiel ihr Blick auf meine Kung Fu Waffe, und ich schaute auf ihren Basketball. Die Folge waren nachdenkliche Blicke auf beiden Seiten. So wie ich mich kurz ziemlich naiv fragte „Warum gehen die nicht besser zum Kung Fu Training, wo sie hier in Beijing doch die besten Voraussetzungen dafür hätten?“, schienen sich die jungen Chinesen zu fragen, was der Ausländer denn wohl mit dem Langstock vor hat. Lange musste ich noch über dieses Bild des Westlers mit dem Langstock und den Chinesen mit dem Basketball nachdenken und fragte mich, wie es wohl in Zukunft mit dem Erhalt der chinesischen Kampfkunst aussehen mag.

Um bei diesem Thema zu einer persönlichen Einschätzung kommen zu können, möchte ich im Folgenden kurz auf die geschichtliche Entwicklung der Kampfkunst in China eingehen.

Kung Fu als Kriegskunst

Der mystische Kaiser Huangdi führte der Sage nach 2698 v. Chr. das erste Kampfsystem ein und gilt demnach als Begründer der chinesischen Kampfkunst. Erste Aufzeichnungen über das JiaoDi, ein ringkampfartiges Kampfsystem, welches auch Schläge und Tritte beinhaltete, finden sich bereits im Buch der Riten um 207 v.Chr.

Wesentliches Ziel der Kampfkunst war zu dieser Zeit die praktische Anwendung im Kampf bzw. Krieg. Frühe Stile bildeten sich heraus und fanden erstmalig im Buch der Riten Erwähnung. Das Buch der Lieder nennt um 1046 v. Chr. erstmals Formen als Trainingsmethode der Kampfkunst und der Kampf findet im JiaoDi auch eine sportliche Ausdrucksform.

Kung Fu als ästhetisches Unterhaltungsprogramm

Auf diese Weise entwickelte sich die Kampfkunst bis um das Jahr 0 herum von der reinen Anwendbarkeit für den Krieg weiter zu sportlicher und unterhaltsamer Kunst, wie Formenvorführungen und dem sportlichen Zweikampf (SanDa). Neben einer zum Teil steigenden Bedeutung der Ästhetik in der chinesischen Kampfkunst, wurde sie auch im Laufe der Zeit von den jeweils dominierenden philosophischen Schulen wesentlich beeinflusst.

Kung Fu als philosophische und gesundheitliche Schule

Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus beeinflussten seit ihrer Entstehung stark die verschieden Kung Fu Stile und entwickelten sie in Verbindung mit der traditionellen chinesischen Medizin zu einem ganzheitlichen System. Während sich Geistliche zur Ertüchtigung ihres Körpers in der Kampfkunst übten, befassten sich Krieger mit Philosophie und Qigong. Kung Fu entwickelte sich zu einer Schule für Körper und Geist.

Für mich persönlich sind folglich die Säulen der traditionellen chinesischen Kampfkunst: der Kampfaspekt, die Gesundheit und Philosophie und die Ästhetik. Letzter Punkt dient allerdings meiner Meinung nach nicht dem Selbstzweck, sondern ergibt sich beim Üben von Formen und Grundtechniken aus der Berücksichtigung theoretischer Konzepte wie z.B. der sechs Harmonien.

Wie wird gelehrt/gelernt?

Traditionell wird die chinesische Kampfkunst im Familienverbund gelehrt. Zwar wurden auch im Militär immer wieder Kampftechniken unterrichtet, doch das Gesamtpaket eines jeweiligen Stils wurde nur innerhalb der Kung Fu Familien weitergegeben. Klöster zähle ich dabei zu einer Sonderform der Familie. Grundsätzlich unterscheidet sich im hierarchischen Aufbau das Kloster nur wenig von der üblichen Kung Fu Familie. Zentrale Rolle nimmt  der Lehrer bzw. Meister ein. Er ist das Oberhaupt der Familie und nimmt daher als Vaterfigur einen hohen moralischen und gesellschaftlichen Stellenwert ein. Neben seiner Rolle innerhalb der Kung Fu Familie ist er auch außerhalb der Familie hoch geschätzt und tritt als Berater und Schlichter bei Problemen auf. Die Schülerschaft besteht entweder aus direkten Familienmitgliedern oder auserwählten Schülern. In der ursprünglichen Form war es Außenstehenden nur schwer möglich, Zugang zu einer Kung Fu Familie zu erhalten.

Während sich neue Schüler die ersten fünf bis sechs Jahre ausschließlich mit Grundlagentraining des Kung Fu Stils beschäftigten, war es erst langjährigen Schülern möglich, tiefer in den Stil einzutauchen. Zum einen hatten sie nun erst die nötigen Fähigkeiten erworben, zum andern war jetzt erst das nötige Vertrauensverhältnis zwischen Meister und Schüler entstanden, um den Schüler in die Geheimnisse des Familienstils einzuweihen. Langjährige Schüler standen dem Lehrer oft näher als die eigenen Söhne, genossen ebenfalls hohen Respekt und waren ihrem Meister auf Lebenszeit verpflichtet. Selbstverständlich war der Alltag eines Kung Fu Schülers vor allem vom Training und den familiären Verpflichtungen geprägt.

Kung Fu im Wandel

Schon seit jeher befindet sich die Entwicklung der chinesischen Kampfkunst in einem Auf und Ab. Ihre erste Blütezeit erreichte sie vermutlich zu Ende der Ming Zeit um 1600. Gesellschaftlich war diese Zeit in China geprägt von einem steigenden Lebensstandart, der durch die wirtschaftlichen- und kulturellen Erfolge jener Tage ermöglicht wurde. Viele einflussreiche Kung Fu Stile wie das Xing Yi Quan, Tai Qi Quan und auch Tang Lang Quan entstanden in diesem Zeitraum und prägen die chinesische Kampfkunst noch heute.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, mit der Einführung von Schusswaffen, dem negativen Einfluss der Kolonialmächte und schließlich dem Ausbruch der Opiumkriege kann von einem Wendepunkt in der Geschichte der chinesischen Kampfkunst gesprochen werden. Die chinesische Kampfkunst wirkte gegenüber der westlichen technischen Überlegenheit rückständig.

Als Reaktion auf die ungeliebten Kolonialmächte erfolgte in China jedoch eine Phase der Rückbesinnung und Pflege des eigenen Kulturgutes. Mit einem steigenden Nationalismus erlebten die traditionellen Kampfkünste in China besonders zur Zeit der Republik zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Renaissance.

Auch durch den Staat wurden Kampfkunstschulen gefördert und etabliert. Mit Hilfe öffentlicher Veranstaltungen und Wettkämpfen machte man Kung Fu als nationales Gut einem breiten Publikum zugänglich. Ziel war es, die Kampfkunst an die neuen gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen und zu erhalten. Erstmals war es nun auch jedermann möglich, in öffentlichen Schulen die Kampfkunst zu erlernen.

In der Volksrepublik China vollzog sich dann Ende der fünfziger Jahre eine immer stärkere Vereinheitlichung von Formen, Stilen und dem jeweiligen Curriculum. Dabei sollte die staatliche All-China-Wushu Organisation die bis dahin unabhängigen Familienstile nach und nach ersetzten und  eine standardisierte Lehrerausbildung sowie Wettkämpfe ermöglichen. Schließlich führte das generelle Verbot chinesische Kampfkunst zu praktizieren im Zuge der Kulturrevolution dazu, das Kung Fu über Jahre hinweg nur im Verborgenen praktiziert und weitergegeben werden konnte. Erst Ende der siebziger Jahre entspannte sich die Situation wieder und man bemühte sich, die chinesische Kampfkunst zu fördern und zu erhalten. Staatliche und traditionelle familiäre Kampfkunstschulen wurden einander gleichgesetzt und die Kampfkunst entpolitisiert. Kung Fu war in das alltägliche Leben zurückgekehrt.

Kung Fu heute

Heute existieren bis zu 12000 große staatliche Kung Fu Schulen mit bis zu 28000 Schülern (Shaolin Taogou Education Group) in China. Parallel gibt es kleinere Schulen bis hin zu den traditionellen Formen der Kung Fu Familien,  in denen noch ein besonders enges Lehrer-Schüler-Verhältnis existiert. Im Gegensatz zu den oft romantisierten Vorstellungen über das Kung Fu Training in Klöstern wird in den modernen großen Kung Fu Akademien heute hauptsächlich die sportliche Facette des Kung Fu unterrichtet. Standardisierte moderne Formen für die Wettkampfteilnahme sowie SanDa um sich im sportlichen Zweikampf messen zu können stehen im Vordergrund des täglichen Trainings. Ebenso wird der reine Kampfaspekt der chinesischen Kampfkunst auch bei der polizeilichen- und militärischen Ausbildung gepflegt. Vor allem aber fällt dem Beobachter die Vielzahl an Chinesen auf, die sich mit den gesundheitlichen Übungen der chinesischen Kampfkunst in den zahlreichen Parks in China beschäftigen. Das Gesamtpaket der traditionellen Kampfkunst sucht man allerdings meist vergebens.

Einzig in den kleineren Kampfkunstschulen und Familienstilen scheint das vernetzte Wissen von Kampf, Gesundheit, Philosophie und Ästhetik erhalten zu sein. Mit viel Glück kann man auch in den Parks einzelnen Meistern mit ihren Schülern begegnen oder man erfährt wo sie trainieren. Die Trainingsinhalte und die Lehrer-Schüler-Beziehung orientieren sich an der Tradition der chinesischen Kampfkunst. Der Lehrer genießt obersten Respekt, und das weit über die Schülerschaft hinaus. Er ist in seiner Straße oder seinem Stadtteil eine moralische Instanz und genießt hohes gesellschaftliches Ansehen. Wie früher besteht das Training in den ersten Jahren aus Grundlagentraining. Erst langjährige Schüler erhalten tiefere Einblicke in den jeweiligen Stil.

Obwohl diese Familienstile quasi das Gedächtnis bzw. das kulturelle Erbe und der Schatz der chinesischen Kampfkunst bilden, stehen sie aktuell vermehrt vor Problemen. Zwar konnte sich die Gruppe von Kung Fu Schülern in der ich einige Zeit trainieren durfte, nicht über Nachwuchsprobleme beschweren, doch hörte man des Öfteren von geschätzten Meistern,  denen es an Schülern fehlt, an die sie ihr breites Wissen weitergeben könnten. Sollten diese Lehrer eines Tages nicht mehr da sein, geht mit ihnen ein enormes Wissen ebenfalls dahin.

Das Erlernen traditioneller chinesischer Kampfkunst ist nicht leicht. Traditionelles Kung Fu ist nicht zu vergleichen mit einem Sport, sondern im besten Fall ein lebenserfüllendes Studium der Kampfkunst in all ihren Teilbereichen, in Reflexion mit der eigenen Person. Es bedarf viel Zeit und Anstrengung die Kampfkunst zu erlenen. Und nicht zuletzt ist ein traditioneller Lehrer unter Umständen nicht bereit, leichtfertig seinen Schatz an Wissen preiszugeben. Um dem Missbrauch der Kunst vorzubeugen, bedarf es eines langjährigen Vertrauensverhältnises von Lehrer und Schüler.

Meiner Meinung nach ist der wesentliche Faktor der der traditionellen chinesischen Kampfkunst heute gegenüber steht die Zeit. Überall auf der Welt wird sie meiner Einschätzung nach immer knapper.   Immer mehr Verpflichtungen, geforderte Flexibilität, veränderte Arbeitsweisen, berufliche Veränderungen und gesellschaftlicher Wandel sorgen gerade in China dafür, dass die nötige Zeit zum Erlenen der chinesischen Kampfkunst immer schwieriger in den Alltag zu integrieren ist.

Als Folge der Ein-Kind-Politik lasten oft die Erwartungen der ganzen Familie auf den Schultern eines Kindes. Schule, berufliche Ausbildung und Studium nehmen den Großteil der freien Zeit in Anspruch. Daneben treten neue Freizeitangebote wie Computerspiele oder soziale Netzwerke. Auch westliche Sportarten werden täglich populärer. Häufigerer Wohnortwechsel und berufliche Veränderungen tragen ebenfalls dazu bei, dass ein regelmäßiges Training über Jahre hinweg für viele junge Menschen immer schwieriger wird. Bequemer scheinen da schon Angebote wie Fitnessstudios oder Universitätssport zu sein, da sie in der Regel flexibler wahrgenommen werden können. Diese Entwicklung ist nicht nur ein chinesisches Problem.

Ausblick

Erfreulicherweise ist in China auch eine gegenteilige Entwicklung zu beobachten. Oftmals haben junge Chinesen schon in modernen Formen wie im SanDa oder athletischem Wushu erste Erfahrungen in der chinesischen Kampfkunst gesammelt und beginnen dann mit der Suche nach einem traditionellen Stil und Lehrer. Scheinbar fehlt ihnen noch etwas in dem schon ausgeübten Formen oder sie sind auf der Suche nach dem Gesamtpaket Kung Fu. Sie müssen das Erbe antreten, bevor es verloren geht. Zum Glück besteht noch die Möglichkeit vielerorts traditionelle Lehrer und Stile zu finden. Hoffen wir nicht, dass es einmal so kommen wird, wie von einem älteren Chinesen etwas resignierend prophezeit. Mit einem Lächeln sagte er in einem Park während meines Trainings zum mir: „Tja, eines Tages müssen vielleicht die Chinesen nach Europa reisen, um die traditionelle chinesische Kampfkunst zu lernen“. In diesem Satz liegt neben etwas schwarzem Humor eben auch eine Chance. Zwar bleiben die traditionellen Kung Fu Schulen in China von zentraler Bedeutung, wenn es um den Erhalt der traditionellen Kampfkunst geht, doch können auch westliche Kung Fu Schulen ihren Beitrag dazu leisten. Ein enger Kontakt und Austausch mit den chinesischen Lehren und Meistern bildet dafür die Grundlage. Die Pflege und der Erhalt der chinesischen Kampfkunst sind durch die heute leichtere internationale Vernetzung besser möglich als jemals zuvor.  Zusammen gilt es nun die Tradition fortzuführen.

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Stephan Panning

    Jetzt endlich mal Zeit gefunden, Deinen Artikel zu lesen (Zeitproblem. Wirklich? Nee, eigentlich ist es ja eine Frage der Prioritäten!). Schöner Überblicksartikel über die Entwicklung und den Stand des Kung fu heute. Und das Ganze nicht nur theoretisch, sondern gespickt mit persönlichen Erfahrungen aus Deiner Zeit in China.

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