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Taiji auf Irrwegen – Teil 2


Summary

(letzter Blogeintrag)
Was ist Taiji?
Aus welchem Kontext kommt es?
Wie hat es sich entwickelt?
Was ist es heute?

(dieser Blogeintrag)
Warum dieser Artikel?
Was ist das Problem mit Taiji heute?
Skills in den CMA.
Schluss bzw Schlussfolgerung.

Motivation für einen Artikel

In der Zeit meiner eigenen Taiji-Ausbildung und vor allem seit der Zeit, in der ich unterrichte, habe ich die unterschiedlichsten Erfahrungen bezüglich der Vorstellung der Menschen, was Taiji denn sei, gemacht. Ich will stellvertretend für die größte Gruppe eine kurze Geschichte wiedergeben. Es kommt hin und wieder vor, dass Lehrer oder angehende Instruktoren aus anderen Stilen oder Schulen bei mir im Training reinschauen. Das ist für mich ok, solange diejenigen mitmachen und eine offene Einstellung zeigen. Vor ein paar Jahren hatte ich einen Instruktor aus einem anderen Taiji-Stil bei mir und ich nahm mir die Freiheit sein Alignment korrigieren zu wollen. Dazu wählte ich die Worte: „Für einen Fauststoss“ … darauf bekam ich die Antwort mit großen Augen: „Im Taiji gibt es keine Fauststöße, es wird schliesslich die Energie des anderen aufgenommen und neutralisiert!“ Huh? Was? Da dies kein Einzelfall war und ich immer öfter über extreme Interpretationen des Taiji-Grundgedanken im Internet stolperte, kam ich zu dem Entschluss diesen Artikel zu schreiben.

Wie sieht Taiji heute im Training aus?

Schaut man auf den vielen Internetpräsenzen und YouTube Videos mit Taiji-Inhalten, so gelangt man bald zu dem Eindruck, dass es sich heutzutage beim Taiji Quan um ein System handelt, das weise, immer ausgeglichene und unerschütterliche „Meister“ hervorbringt, die in sich ruhend jeden Angriff neutralisieren können und ihre Angreifer mit einem leichten Schubs (oft auch ganz ohne Berührung) durch die Luft fliegen lassen. Tatsächlich bin ich schon selbst Lehrern begegnet, die enorme Fähigkeiten hatten und mich tatsächlich in die Luft beförderten. Diese Fähigkeiten sind durchaus erreichbar, nur sind sie das alleinige Ziel? Um diesen Ideal an Fertigkeiten nahezukommen, stehen in den meisten Schulen den Taiji-Praktizierenden neben Formtraining und Meditationstechniken einzig und allein Übungen aus dem „Tui Shou“ oder Push Hands zur Verfügung. Diese Übungen sollen dem Praktizierenden im festen Stand oder mit erlaubtem Schritt Taiji Quan Grundlagen spürbar machen. Es geht um Begriffe wie Peng, Lü, Ji und An manchmal auch um Cai, Lie und Zhou. Die eigene Kraft wird verborgen und die Kraft des anderen genutzt um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Eine tolle Übung, die auf vielen Ebenen den Praktizierenden Einsichten in sich selbst und den Gegner gewährt. Mit wenigen Ergänzungen, wie z.B. erlaubten Hebeltechniken und / oder Einsatz von Beinarbeit, wird aus dem ruhigen Tui Shou eine dem Ringen ähnliche Übung.

Fertigkeiten in den chinesischen Kampfkünsten

Die Fertigkeiten in den klassischen chinesischen Kampfkünsten decken eine weite Palette ab: angefangen bei der grundlegenden Fertigkeit eine korrekte Körpermechanik zu entwickeln und diese immer besser zu beherrschen, geht es um Kraftentwicklung, Schnelligkeit, Gelöstheit, Verwurzeln, Intuition, Routine, Gegnerkontrolle und vieles mehr. Die wichtigste der fortgeschrittenen Fertigkeiten ist in meinen Augen die Kontrolle der Distanzen (Plural!). Alle diese Fertigkeiten kann man nur mit Übung und Erfahrung wirklich meistern. Dazu ist es klug unterschiedliche Übungen und Situationen zu reproduzieren und daraus zu lernen. Übungen für unterschiedliche Handtechniken an einem Sandsack z.B. oder an einem Partner, Tritte und Würfe in Kombination mit Handtechniken und Körpereinsatz gehören in jedes Training einer Kampfkunst. Es gibt viele Methoden, oft auch sehr speziell in einem Stil oder einer Familie vertreten, Fertigkeiten für den Kampf zu entwickeln. Aber es ist immer die Verschmelzung vieler Fertigkeiten, die einen guten Kampfkünstler, unabhängig vom Stil, aus machen. Die Fokussierung auf nur eine Methode ist da eher irreführend.

Schlussfolgerung

Die Hervorhebung und oft auch Glorifizierung der Tui Shou-Fertigkeiten hat mMn zu einer deutlichen Versteifung der Taiji Quan Schulen auf das Push Hands als alleiniges Partnertraining geführt. Fertigkeiten, die hierfür notwendig sind, werden (gewollt oder ungewollt) zu einem alleinigen Ideal stilisiert. Rooting, Listening Skills, Soft-Power und Entspanntheit, alles wichtige CMA Skills und nur stellvertretend für die wichtigsten Taiji Fertigkeiten hier benannt, bilden den Fokus im Partnertraining. Ich halte diese Fertigkeiten für extrem wichtig und versuche selbst diese beständig zu verbessern. Das Training im Taiji Quan, das ich gebe, verfolgt ebenso die Erklärung und den Zugang zu diesen Skills. Doch meine ich, ist es damit nicht getan. Tui Shou ist ein Werkzeug und kein Stil oder stilbildender Anteil. Es kann genutzt werden, um die Taiji Quan-Praktizierenden in ihrer Ausbildung zu verbessern und voran zu bringen. Ebenso wie das Formentraining ein Werkzeug ist, um Fähigkeiten zu entwickeln und zu schulen. Aber damit ist nur ein Teil der notwendigen Skills im Taiji Quan zu vermitteln. Es bleibt der Umstand, dass eine komplette Kampfkunst auch Trainingsinhalte wie Schlagtraining, Tritttraining, Wurf und Fallschule, distanzüberbrückendes Training, Rou Shou (oder klebende Hände) und vor allem auch den freien Kampf (Sparring) braucht, um eine Kampfkunst zu sein. Die Liste ist nicht erschöpfend und soll nur einen Eindruck widerspiegeln, was ergänzt werden kann. Push Hands gibt mir die Möglichkeit an einigen Fähigkeiten zu arbeiten, aber bei weitem nicht an allen, die notwendig sind. Ein Könner im Push Hands ist ein Könner auf einem Gebiet, doch nicht zwingend ein Könner im Taiji Quan. Dazu gehört mehr. Die Negierung von anderen Trainingstools im Taiji Quan und oft auch von jeglicher „aggressiv“ erscheinender Techniken, wie einem simplen Fauststoß, beschneidet die Kampfkunst um ihr volles Potenzial. Es ist genauso undenkbar, als wenn ich nur mit Sparring und ohne Tui Shou Taiji Quan unterrichten wollte. Es gibt nicht wenige, die diese Sichtweise teilen. Doch die Mehrheit der Taiji Quan-Anhänger ist sich der Komplexität der von ihnen praktizierten Kampfkunst nicht bewußt. Zu guter Letzt muss auch jedem, wie auch in unserem Verein üblich, selbst überlassen werden, wie tief er in das Taiji Quan eintauchen will. Es gibt die unterschiedlichsten Gründe sich mit diesem faszinierendem Stil zu befassen und alle haben ihre Legitimität. Doch in dem Moment, in dem ich mich entscheide ein „Meister“ oder „Könner“ des Taiji Quan zu werden oder auch nur ein Lehrer, muss ich mich mit allen Facetten der Kampfkunst auseinander setzen.

Gerne verweise ich hier auf einen Artikel, der in die selbe Richtung geht: Artikel des Chen Taiji Netzwerk Deutschland

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Stephan Panning

    Ich sehe in dem Artikel meine ganz persönliche Entwicklung mit dem Tai ji quan, unterteilt in drei Phasen:
    1. Das Lernen der Grundtechniken und Formen – aus einer Gesundheitsmotivation heraus
    2. Das Erfahren der Grundprinzipien und -techniken im Partnerkontext: Tui shou
    3. Die Anwendung in Kampfsituationen. Hier wird die gesamte Bandbreite des Tai ji Systems deutlich. Dieser Bereich fasziniert mich, komme ich doch hier mit archaischen Teilen meiner Persönlichkeit in Kontakt.
    So bietet Taiji quan eine Möglichkeit, sich ein Leben lang weiterzuentwickeln und zu lernen.

  2. Michael Cluesmann

    Das Bild der Kampfkünste leidet in der breiten Gesellschaft unter der impliziten Annahme, daß die Fähigkeit zur gezielten Anwendung von Gewalt automatisch die Bereitschaft dazu voraussetzt oder zumindest befördert. Meine Theorie zum Tai Chi war immer (ca 90er), daß es um überhaupt als förderlich für die Gesundheit wahrgenommen zu werden von jedem Verdacht zu seinem ursprünglichen Zweck geeignet zu sein geläutert werden mußte. Das Austeilen und Annehmen von Fauststößen mit irgendwelchen Energien zu verklausulieren ist dabei eine der Techniken die ich seinerzeit dazu identifiziert hatte. Überhaupt scheint das taoistische Repertoire an Begriffen hervorragend geeignet um gewisse Dinge zu verschleiern und gleichzeitig den Eindruck von abstrakter Bedeutung zu vermitteln ohne darauf näher eingehen zu müssen. Nicht etwa weil es nichts weiter zu verstehen gäbe, sondern weil die breite Gesellschaft sich freudig mit diesen Worten als Erklärung zufrieden gibt. Harmonie klingt doch super, was soll ich da fragen?

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